Teamführung – früher, heute und in der Zukunft – Teil 1

Im Gespräch mit Vera Morgenschweis zum Thema Teamführung – früher, heute und in der Zukunft – Teil 1 

Vera Morgenschweis arbeitet als Scrum-Master in der Haufe Group, die sich immer stärker zu einem Unternehmen mit kunden- und mitarbeiterzentriertem Arbeitsumfeld wandelt. Sie hat die spannende Aufgabe, Teams auf dieser Reise zu begleiten. Im Gespräch mit Victoria Gerards spricht sie über ihre Erfahrungen und Beobachtungen zum Thema Teamführung – früher, heute und in der Zukunft.

Victoria Gerards:
Frau Morgenschweis, wie beschreiben Sie die Rolle des Scrum-Masters?

Vera Morgenschweis:
Ich empfinde es als eine große Bereicherung, dass durch die Agile Organisation die Führung von persönlicher Entwicklung und die Führung von fachlicher Entwicklung getrennt ist. Die Rolle des Scrum-Masters fokussiert sich also ganz auf die persönliche Entwicklung des Einzelnen und des Teams als Ganzes. Dadurch bekommt diese Entwicklung eine ganz andere Qualität, denn sie findet konzentriert und fokussiert statt. Durch diese klare Rollenfokussierung bleibe ich als Scrum-Master in der Beobachter-Rolle, muss mich mit den fachlichen Themen nicht wirklich beschäftigen und werde so von der Team-Entwicklung nicht abgelenkt. Das empfinde ich als große Entlastung, da ich so den Meta-Blick behalten kann, durch den ich deutlich besser in der Lage bin, sofort Interventionen oder Impulse zu setzen, wenn mir etwas auffällt, um so der Teamentwicklung eine andere Farbe, eine andere Richtung zu geben. Das beinhaltet vor allem auch die Befähigung der Team-Mitglieder, die Potenziale und Möglichkeiten der Selbstorganisation der Arbeit auch voll ausschöpfen zu können.

Victoria Gerards:
Was verstehen Sie in diesem Kontext unter Befähigung?

Vera Morgenschweis:
Genau. Befähigung bezieht sich insbesondere auf die Selbstorganisation, was ja für viele Menschen Neuland ist. Das hat auch etwas mit „um Erlaubnis fragen“ zu tun. Wir waren es ganz lange nicht gewohnt, diese freie Entfaltungsmöglichkeit zu haben. Implizit ist durch die alten hierarchischen Strukturen das Unterwürfige oft noch geblieben, wenn immer noch gefragt wird: „Ja wenn ich das jetzt mache, ist das dann auch alles in Ordnung für den Teamleiter?“ Das ist heute nicht mehr da. Der Scrum-Master kann also eher beobachten, wo es noch mehr Befähigung braucht, um die Selbstorganisation und Entscheidungsfähigkeit fördern zu können.

Victoria Gerards:
Sehen Sie die Scrum-Master Rolle als Bestandteil des Teams oder außerhalb des Teams?

Vera Morgenschweis:
Aus meiner Sicht ist der Scrum-Master Teil des Teams. Ich beteilige mich immer bei den Retrospektiven und ich teile meine Sicht über das mit, was ich in den letzten zwei Wochen im Sprint beobachtet habe. Für mich ist das eine neue Form der Teamzusammensetzung, denn ich bringe die fachlich inhaltlichen Themen ja überhaupt nicht ein, dazu gibt es für mich die Verbindung nicht. Das ist durchaus ein Punkt, den ich für mich auch immer wieder hinterfrage: Wieviel Verbindung habe ich mit dem Team? Und braucht es diese Verbindung oder ist es gerade gut, dass ich in dieser Meta-Ebene bleibe, um auch wirklich neutral zu sein, um die Allparteilichkeit zu behalten? Ich glaube, es ist ein großer Gewinn und ein ganz großer Vorteil, diese Allparteilichkeit zu haben, um auch einen Ausgleich schaffen zu können, sobald ich sehe, dass ein Ungleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Rollen vorhanden ist. Wenn ich beispielsweise sehe, dass der Product Owner einfach zu dominant oder zu stark wird, dann kann ich das Entwicklungsteam in den Fragestellungen oder in der Impulssetzung wieder mehr in den Raum holen, um einen guten Ausgleich zu schaffen. Genauso umgekehrt. Manchmal ist es das Entwicklungsteam, das meistens aus mehreren Personen besteht, die fordernder sind und sagen: „Das müssen wir jetzt aber so machen“. Dann ist es der Product Owner, der eine Stärkung braucht. Ich glaube, das erfordert einen gewissen Abstand zum Team. Dennoch braucht es auch die Nähe, die finde ich auch ganz wichtig, dieses tägliche Zusammenkommen, selbst wenn es nur sehr kurz ist, um die Schwingungen, die es im Team gibt, die unausgesprochenen Elefanten, die im Raum sind, wahrnehmen zu können. Deshalb braucht es auch die Nähe, um in irgendeiner Form fester Bestandteil im Team zu sein.

Victoria Gerards:
Wenn Sie Ihre heutigen Erfahrungen mit konservativer Führung vergleichen und auch diesen Wechsel aus der konservativen Führung in die agile Führung – was ist die Kernkompetenz oder Kernfähigkeit, die es am Ende des Tages für diese Veränderung braucht?

Vera Morgenschweis:
Ich meine, dass sich die Führungskräfte selber prüfen müssen, um für sich auch das Loslassen zu üben.  Für sich prüfen, welche Entscheidungen noch wirklich selbst getroffen werden müssen und welche Entscheidungen auch gut ins Team gehen können.  Sie müssen da immer auch in die Befähigung gehen, in die Prüfung gehen, ist das Team schon in der Selbstorganisation und schon so weit entwickelt, dass es entscheidungsfähig ist bzw. was braucht es vielleicht noch an unterstützenden Rahmenbedingungen oder Informationen oder Hilfestellstellung aus Führungssicht, um diese Entscheidungsfähigkeit weiter zu fördern, die es zur Selbstorganisation braucht.

Victoria Gerards:
Und wenn es ein Loslassen ist, vor allen Dingen ja auch von der Entscheidungsbefugnis, was kommt stattdessen für die Führungskraft? Welchen Nutzen hat das für die Führungskraft, wenn sie loslässt?

Vera Morgenschweis:
Ich empfinde das Loslassen als extreme Entlastung, weil dadurch große Verantwortung geteilt und so mehr Freiraum gewonnen wird, sich wirklich auf die Potentialhebung der einzelnen Mitarbeiter zu konzentrieren, weil mir als Führungskraft das wichtig ist. Das ist aber eine Frage, die sich jede Führungskraft selbst stellen muss: bin ich eher fachlich orientiert, also am Produkt oder am Thema interessiert, oder eher am Team und den Menschen, daran, die Persönlichkeiten herauszuheben und die Potenziale der Mitarbeiter zu fördern? Ich glaube, es ist wichtig, dass Führungskräfte da ehrlicher zu sich werden und für sich die Entscheidung treffen, ob sie mehr das eine oder das andere wollen. Und ich glaube, dass sich durch diese Entscheidungen die Rollen von Führung ändern werden.

Victoria Gerards:
Das heißt, Ihre Prognose ist, dass sich Führung insgesamt noch mehr teilen wird in fachliche und persönliche Führung?

Vera Morgenschweis:
Das ist so mein Gefühl.

Victoria Gerards:
Und dass fachliche Führung eher auch im konservativen System bleibt?

Vera Morgenschweis:
Nein, das glaube ich nicht, denn fachliche Führung hat auch wieder etwas mit Befähigung zu tun. Durch die Verteilung der fachlichen Kompetenz kann immer auch Entlastung entstehen, denn durch die Trennung von fachlicher und persönlicher Führung hängt nicht mehr alles nur an einem Kopf. So kann sich eine gewisse Leichtigkeit ergeben. Tatsächlich ist das ja schon fast wie eine Resilienz, die man da aufbaut oder ermöglicht, dadurch dass man einfach Verantwortung auf die Gemeinschaft verteilt. Das empfinde ich als große Entlastung. Wenn ich so zurückblicke in die alte Welt und dann in die neue Welt schaue, ist das für mich die größte Erleichterung. Auch bei mir persönlich setzt das ja neue Ressourcen und Energien frei.

Victoria Gerards:
Ich kann mir vorstellen, dass auf der Führungsebene das Loslassen doch auch zumindest als Machtverlust empfunden wird, sowohl für die persönlichen als auch die fachlichen Führungskräfte und auch für die Mitarbeiter. Aber dieser Leistungsdruck, das Preußische sozusagen, das ist ja auch ein Stück weit in unserer Kultur.

Vera Morgenschweis:
Die Führungskräfte müssen sich mit dieser Fragestellung auseinandersetzen. Was ist es denn konkret, was ich da aufgebe. Was ist das, was ich vermisse, wenn ich es abgebe und was gewinne ich andererseits vielleicht dazu. Ist das wirklich so etwas Wichtiges, ist meine Identität nur auf dieses, was ich da abgebe, gerichtet oder ist da nicht mehr, was ich will. Das ist die persönliche Auseinandersetzung mit dem „was gebe ich ab“.  Bezogen auf die Leistungsgesellschaft sind wir da wieder bei der Befähigung was Teams angeht und was die Persönlichkeit. Die Auseinandersetzung mit sich selber, wieviel Entscheidung will ich haben. Ich erlebe es eigentlich so, die Leute wollen ja in irgendeiner Weise selbstbestimmt arbeiten und auch für sich herausfinden, wie stelle ich mir mein Leben im Einklang mit Familie und Job weiter vor, um auch für sich zu prüfen, wie gelingt für mich eine gute Balance, wieviel Verantwortung will ich übernehmen. Und das Schöne ist ja, weil die Verantwortung geteilt wird, lastet sie auch nie alleine nur auf meinen Schultern. Ich glaube schon, dass das manchmal so wie in der alten Welt verstanden wird: du machst jetzt diese Aufgabe und du diese Aufgabe. Aber im Scrum halten wir das ja so: jeder nimmt sich etwas, aber wir bleiben alle in der Gesamtheit verantwortlich.

Victoria Gerards:
Stichwort Wissensteilung und Know-how Transfer – wie ist Ihr Blick darauf?

Vera Morgenschweis:
Das finde ich schön, dass man jetzt viel durch die interdisziplinären Teams erreichen kann. Wenn beispielsweise Kundenbeschwerden hereinkommen, landen diese sofort im Team und gehen nicht erst von Abteilung zu Abteilung, bis sie dort landen, wo etwas geändert werden kann. Und ist das dann geändert, ist es vielleicht schon überholt. Das heißt, der Transfer und die Qualität der Funktionen sind viel näher am Kunden ausgerichtet. Es kann also viel schneller verstanden, behoben und umgesetzt werden. Interdisziplinär wird manchmal falsch verstanden, dass man sagt, alle müssen alles können. Nein, das bedeutet es nicht. Aber die Teams sollten so bestückt sein, dass sie alle Kompetenzen besitzen. Für mich ist es manchmal ganz spannend zu sehen, was Marketing macht, was dort so alles getan wird, um dem Kunden das Produkt als attraktiv zu verkaufen. Und dadurch passiert ja dann auch bei mir in der Software-Entwicklung etwas, wo ich dann sage: Ach cool, da hätte ich vielleicht auch noch eine Idee, was man da noch machen kann.

Victoria Gerards:
Und gibt es etwas aus der alten Welt, das Sie vermissen?

Vera Morgenschweis:
Was in der alten Welt ja positiv ist, ist dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, dieses Schulter an Schulter sein. Das, was ein tolles Team ausmacht hat mit Zusammengehörigkeit oder Zugehörigkeit zu tun. Das bleibt. Das sind die schönen Dinge, die ich mitgenommen habe, die sind ja auch in der neuen Welt vorhanden. Ich vermisse also nichts.

Victoria Gerards:
Würden Sie nochmal in zwei Sätzen zusammenfassen, was für Sie der Gewinn im Rahmen der Scrum-Master Rolle ist, was ist das größte Geschenk für Sie daraus?

Vera Morgenschweis:
Für mich ganz persönlich, Menschen dabei zu unterstützen oder begleiten zu können, sich persönlich oder auch als Team zu entwickeln und damit Einfluss zu nehmen auf die gesamte Organisation. Das ist eine Entwicklung, die überträgt sich ja bottom up in das ganze Unternehmen.  Das ist eine gute Möglichkeit, Veränderung von unten nach oben zu bewirken.

Die Fortsetzung des Gesprächs wird in der nächsten Ausgabe des Energie durch Entwicklung MAGAZINs im Oktober 2018 erscheinen.

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