Unsere eigene Sicht auf Menschen, Situationen, Dinge und Prozesse zu haben, zeichnet unsere Individualität aus. Geprägt ist unsere Wahrnehmung dabei von unserer Erziehung, Sozialisation und vielen Einflüssen, denen wir im Laufe unseres Lebens begegnen. Durch sie bilden wir unser Werte- aber auch unser Bewertungssystem aus. Sie geben uns Halt und Struktur, können uns aber auch blockieren, wenn wir uns beispielsweise neuen Herausforderungen gegenübersehen und dadurch gelernte und gewohnte Strukturen und Prozesse verlassen müssen. Genau dann ist ein gesundes und reflektiertes Selbst-bewusst-sein wichtig, um die eigene Sicht auf das innere Bewertungssystem erfolgreich hinterfragen zu können. Nur so hat man die Möglichkeit, den oft unbewussten, eigenen Bewertungsprozessen auf die Spur zu kommen.
Insbesondere wenn wir versuchen neue Wege zu gehen, stehen sie uns oft im Weg: Unconcsious Biases = Wahrnehmungsverzerrungen aufgrund von Konditionierungen und alten Gedankenmustern.
Der Begriff Bias kommt aus dem Englischen und beschreibt kognitive Wahrnehmungsverzerrungen wie z. B. Vorurteile, Stereotypen und andere Denkfehler. Biases können bewusst oder unbewusst (= Unconscious Biases) auftreten.
Viele unserer Unconscious Biases lassen sich aus allgemeinen Prinzipien der Evolutionstheorie ableiten. Da unser Gehirn ein großes Energie-Spar-Organ ist und grundsätzlich alle Informationen, die es erhält, erst einmal auf Bekanntheit überprüft, stecken wir ganz automatisch unsere wahrgenommene Welt in die uns bekannten Schubladen, um schneller auf neue Informationen reagieren zu können.
Im Online-Lexikon Wikipedia sind mehr als 175 bekannte kognitive Verzerrungen aufgelistet. Immer wieder wurde versucht, diese Verzerrungen zu kategorisieren, um sie übersichtlicher darstellen zu können. Ein Typisierungsversuch des US-Internet-Bloggers Buster Benson wurde von John Manoogian grafisch als Cognitive Bias Codex aufbereitet.
Folgende Typen von Biases können dabei ganz grundsätzlich unterschieden werden: Stereotypen und Vorurteile.
Stereotypen
Stereotypen sind relativ emotionslose, neutrale Erwartungen und Vorstellungen, wie sich Mitglieder von Gruppen verhalten, wie sie aussehen und sich kleiden oder welche Fähigkeiten sie haben. Dabei bezeichnen Stereotypen das unvollständige Wissen über bestimmte soziale Gruppen – z. B. Alte sind weise oder AfrikanerInnen laufen schneller.
Vorurteile
Vorurteile sind im Vergleich zu Stereotypen mit Emotionen behaftet. Es sind persönliche negative und positive Bewertungen gegenüber bestimmten Gruppen. Wenn wir Stereotypen Glauben schenken, werden sie zu Vorurteilen.
Stereotypen und Vorurteile haben wir allerdings nicht nur gegenüber sozialen Gruppen, sondern z.B. auch gegenüber neuen Formen der Zusammenarbeit, neuen Teams etc. Damit spielen Biases eine wichtige Rolle im Bereich Change Management und in Entwicklungsprozessen von Menschen, Teams und Organisationen, da sie, wenn nicht aktiv mit ihnen umgegangen wird, zu einer großen Blockade in Entwicklungs- und Veränderungsprozessen werden können.
Stereotypen und Vorurteile führen allerdings nicht zwingend zu Widerstand oder Diskriminierung, da wir bewusste Biases kontrollieren können, in dem wir unsere Sprache und unser Verhalten bewusst steuern. Schwieriger ist es mit den sogenannten Unconscious Biases, also den unbewussten Vorannahmen. Diese können unseren inneren Kontrollmechanismus umgehen und sich durch unsere Sprache und unser Verhalten gegenüber anderen ausdrücken. Das bringt oft Konfliktpotenzial mit sich.
Diese Spannungen können nicht nur individuell, sondern auch auf organisationaler Ebene auftreten. Hier geht es vor allem um Eigenlogiken, Verfahren und Praktiken in Unternehmen und deren Wirkungen auf das Verhalten von MitarbeiterInnen gegenüber bestimmter Gruppen, z.B. Teams, Führungskräften etc. Die Wirkung von Unconscious Biases wird dabei meist unterschätzt.
Wie drückt sich Unconscious Bias in der Praxis aus?
Ein Beispiel: Ein neuer Mitarbeiter hat seinen ersten Arbeitstag und wird dem Team vorgestellt. Er ist groß, sieht gut aus, hat eine kräftige angenehme Stimme und einen souveränen festen Händedruck. Ein bisschen erinnert er Sie an ihren Bruder. Sie sind absolut begeistert von ihm und erzählen auch direkt Ihren Kollegen aus dem Nachbarteam von ihm. Die Tatsache, dass die Begrüßung und Vorstellung mit ihm angenehm war heißt nicht zwingend, dass er auch ein angenehmer Kollege in der Zusammenarbeit ist. Der sympathische Eindruck überstrahlt jedoch alle anderen Merkmale und führt zur Zuschreibung von weiteren positiven Merkmalen. Ist Ihnen das in der einen oder anderen Form auch schon passiert?
Dieser Effekt wird Halo-Effekt genannt. Das Wort „Halo“ kommt aus dem Englischen und steht für Heiligenschein. Der Terminus wurde Anfang des 20. Jahrhunderts vom amerikanischen Verhaltenspsychologen Edward Lee Thorndike eingeführt. Ausgangspunkt für den Halo-Effekt sind vor allem markante Merkmale einer Person, wie z. B. Attraktivität, außergewöhnliche Leistungen, Körpergröße, Übergewicht oder Behinderung. Diese erzeugen einen positiven oder negativen Eindruck, der den Gesamteindruck unverhältnismäßig verzerrt. Der Effekt der physischen Attraktivität ist besonders häufig belegt worden. Personen, die gut aussehen, werden demzufolge meist auch als intelligent, gesellig oder dominant beurteilt.
Der Halo-Effekt ist eine Form von Unconscious Bias der besonders im Recruiting neuer MitarbeiterInnen, bei Mitarbeitergesprächen und -beurteilungen eine Rolle spielt.
Fünf Tipps für den Umgang mit Unconscious Biases
Wie können wir also mit unseren unbewussten Wahrnehmungsverzerrungen umgehen? Wie bei anderen „blinden Flecken“ auch, gilt es hier, diese unbewussten Wahrnehmungs- und Entscheidungsmuster bewusst zu machen, in dem wir sie erkennen, hinterfragen und dann reduzieren. Die folgenden fünf Tipps können dabei helfen:
Akzeptieren: Wir alle haben Unconscious Biases. Das ist etwas grundmenschliches und kein Grund, sich dafür zu schämen. Der Aufbau von Wissen über Biases und ihre Entstehung und Wirkung hilft dabei, dieses Phänomen zu entmystifizieren.
Identifizieren: Im nächsten Schritt gilt es die Situationen, in denen Entscheidungs- und Beurteilungsfehler wahrscheinlich sind, zu identifizieren. Oft sind das Stresssituationen, die dazu führen, dass wir schnell in den Autopilotmodus geraten. Zeitdruck, Ärger, Multitasking und andere kognitive Belastungen sind Faktoren, die die bewusste Kontrolle von Biases erschweren. Holen Sie sich von FreundInnen und KollegInnen Feedback zu Ihren persönlichen Vorlieben und Mustern.
Analysieren: Anhand der einfachen 3-Phasen-Regel können Sie Ihre Wahrnehmung in Situationen ganz leicht analysieren:
- Beobachtung: Was sehe ich? Was lese oder höre ich?
- Interpretation: Was denke ich? Wie ordne ich zu?
- Bewertung: Was empfinde ich? Welche Emotion löst die Situation bei mir aus? Wie beurteile und entscheide ich?
Quelle bestimmen: Unsere Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozesse sind immer von unseren Erfahrungen bestimmt. Diese wiederum sind geprägt von der Kultur, in der wir aufwachsen, leben und arbeiten, wie wir erzogen und sozialisiert wurden, von unseren persönlichen Erlebnissen, unserer Umwelt und auch von den Medien. All das konditioniert unsere Biases. Hier hilft es bewusst in die Reflexion zu gehen. Stellen Sie sich Fragen wie: Woher könnte ein mögliches Vorurteil stammen? Wo und wie habe ich gelernt, so zu reagieren? Welche kulturellen Werte und Normen sind mit meiner Interpretation und Bewertung verbunden? Wie unterscheiden sich diese von der anderen Person? Dabei kann Ihnen zum Beispiel auch ein Coach helfen.
Reduzieren: Sobald Ihnen bestimmte Biases und ihre Mechanismen bewusst werden, können Sie auch bewusst entscheiden diese zu reduzieren und anders mit bestimmten Situationen umzugehen. Sie können Unconscious Biases begegnen, wenn Sie sich ihrer bewusst werden und sich Wissen zu den einzelnen Themen aneignen, um auch andere Schlüsse ziehen zu können. Dieser sich erweiternde Erfahrungsschatz lässt sukzessive Vorbehalte schmelzen. Dabei ist es auch hilfreich, sich zu überlegen, welchen Unterschied das für Sie selbst und für die anderen macht und wie Sie mit Rückfällen umgehen wollen. Seien Sie dabei nicht zu hart mit sich selbst, denn Rückfälle gehören zu jedem Entwicklungsprozess hinzu. Es ist wie ein neuer Muskel, der trainiert werden will.
Unser Tipp: Gehen Sie auf neue Menschen, neue Technologien und neue Arbeitsweisen, denen gegenüber Sie Vorbehalte haben, zu. Sprechen Sie mit ihnen, lesen Sie sich in neue Themenfelder ein, schauen Sie sich Videos dazu an oder hören Sie Podcasts. Probieren Sie Neues aus und machen Sie Ihre eigenen Erfahrungen. Lernen Sie, sich in der neuen Umgebung oder mit neuen Kollegen oder Arbeitsweisen wohl zu fühlen. Sprechen Sie kulturelle Unterschiede an und suchen Sie nach Gemeinsamkeiten.