Angst 4.0 – Widerstand oder produktive Energie

Von ANGELUS NOVUS heißt es: “…. er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft…. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ (Walter Benjamin)

Wir sprechen heute weniger von „Sturm“ als vielmehr von „Disruption“ im Zuge digitaler Transformationsprozesse. Diese erscheinen als Garant für Wettbewerbsfähigkeit, Überleben, Wachstum. Disruption ist nicht nur assoziiert mit dem Glauben an eine positive Zukunft, sondern vor allem mit Unberechenbarkeit: Das radikal Neue lässt sich nicht aus Daten der Gegenwart und Vergangenheit berechnen. Das würde voraussetzen, dass nichts Unerwartetes passiert. „Die Zukunft der Technik und damit der Nutzen neuer Technologien lässt sich nur in Szenarien mit unterschiedlicher Plausibilität denken“ (Grunwald, Karlsruher Institut für Technologie), sprich: wir haben es mit vielen unterschiedlichen Zukünften zu tun, die nicht rational berechenbar sind, weder für das Unternehmen noch für die Stakeholder. Greifbares erscheint wenig abgesichert, Visionen nehmen den Platz gewohnter Vorstellungen ein. Inwieweit diese hoffnungsfrohe, bunte Bilder zeichnen oder düstere, angstauslösende, das hängt in entscheidendem Maße von der Führung, Leistungskultur und selbstverständlich den Ergebnissen des Unternehmens ab.

MENSCH UND MASCHINE

Automation verhilft zu einer Maschine, die unsere Ideen und Problemlösungen besser umsetzen kann denn je! In der Fabrik ohne Mauern wird die Arbeitssituation in Abhängigkeit vom Auftrag ständig neu definiert, Jobs werden nicht mehr an einem Arbeitsplatz erfüllt, sondern nur in der Vernetzung. Denn erst in der Kommunikation und im Informationsaustausch zwischen allen Beteiligten erfüllen die Universalmaschinen optimal ihre Funktion. Standardisierte Fertigung verliert an Bedeutung zugunsten der vielbeschworenen Losgröße 1 (vollautomatisierte Fertigung von Unikaten nach Kundenwünschen). Im Fokus steht die Kunst des Zusammenbringens, die gelungene Kommunikation zwischen Unternehmen und Kunden sowie innerhalb des Unternehmens selbst. Damit sind und bleiben Menschen der entscheidende Faktor in der Wertschöpfungskette: Gut ausgebildete Organisatoren, Wissensarbeiter, Kreative!

Ein intelligenter Wissens-Hub, der Datensätze sammelt, Informationen verknüpft, die Ergebnisse verteilt, so dass die Maschinen den Zustand und den Bedarf der Fertigung permanent abgleichen können, unmittelbare Kommunikation via Internettechnologie, alle diese Ziele sind gebunden an den Menschen in seiner Entscheidungsfunktion: Eine sich selbst steuernde Fertigung ist und bleibt Unsinn! Big Data und ausgeklügelte analytische Werkzeuge lassen fast sämtliche Prozesse effizienter gestalten – und gerade damit werden Intuition, Kommunikation und Kreativität zu den herausragenden Unterscheidungsmerkmalen von Unternehmen. Wenn alle über den annähernd gleichen technologischen Vorteil verfügen, macht der Mensch den Unterschied!


ANGST 4.0

Die Angst, die sich mit der Digitalen Transformation verbindet, steckte bereits in der ersten industriellen Revolution (historisch bedeutsam der Weber Aufstand von 1844). Ziel der Automatisierung, bis heute in der DIN V19233 festgeschrieben, ist „das Ausrüsten einer Einrichtung, so dass sie ganz oder teilweise ohne Mitwirkung des Menschen bestimmungsgemäß arbeitet“. Ohne Mitwirkung des Menschen, das macht früher wie heute Angst! Angst vor Arbeitsplatzverlust, gesellschaftlichem Abstieg, Verelendung, diese Themen bewegen bis heute die Menschen.

Arbeit 4.0 ohne jeden Routineanteil wirkt verdichtet, stressig, komplex. Zeichen der Überforderung oder gar Unfähigkeit werden sehr viel schneller sichtbar, Fehler im Komplexen sehr viel folgenschwerer. Fazit: Es darf keine Minderleister geben! Bei rasant zunehmendem Verlust bewährter Denk- und Handlungsmuster steigen die Erwartungen an die Lern- und Leistungsbereitschaft jedes Mitarbeiters, erzeugen Ängste, die durch das Gemessen werden an Maßstäben, die undurchsichtig geworden sind, noch verstärkt werden.

Angst stellt sich für jeden Menschen als ein ganzheitliches, subjektiv höchst unangenehm erlebtes Phänomen dar. Mit zunehmender Intensität sinkt die Informationsverarbeitungskapazität (Konzentration, Lernen, Gedächtnis), Ressourcen werden nicht mehr oder falsch wahrgenommen (Über-, Unterschätzung), die Fehlerquoten nehmen zu, Leistungsblockaden bis hin zu völligem Leistungsversagen sind die Folge. „The only thing we have to fear is fear itself“ (Roosevelt 1933), denn wer von Angst getrieben ist, vermeidet dasUnangenehme, verleugnet das Wirkliche und verpasst das Mögliche! Der Angsterfüllte begibt sich in einen circulus vitiosus, in dem angsterzeugt die angstauslösenden Bilder Wirklichkeit werden.

Dabei blockiert Angst nicht nur Denk-, Entscheidungs- und Handlungsprozesse, sondern führt auch zu körperlichen Störungen, einer Schwächung des Immunsystems und befördert damit die Ausbildung langwieriger Erkrankungen, die für das Unternehmen unweigerlich hohe Kosten produzieren.


ANGST UND FÜHRUNG 

So wie Stress nicht einfach negativ zu bewerten ist, sondern als belastender Distress oder lebensbejahender Eustress differenziert werden sollte, hat auch die Angst zwei Gesichter. Angst als verstärktes Ego-Involvement einschließlich der begleitenden Prozesse auf neurobiologischer Ebene zeigt sich als aktivierende, produktive Kraft, die den Menschen nicht nur motiviert, sondern auch befähigt, höhere Leistungen mit Freude und Engagement zu erbringen. Diese Kraft wird um so wirksamer, je stärker die Aufgabe neue Herausforderungen enthält, Mut, Kreativität und Selbstverantwortung erfordert. Vorausgesetzt wird eine mäßige Intensität der Angst, die Denkprozesse (noch) nicht blockiert, sondern gerade den Leistungsmotivierten, der Aufgaben mit einer 50% igen Erfolgswahrscheinlichkeit sucht (leichtere Aufgaben erzeugen bei Erfolg wenig Stolz, schwere Aufgaben enthalten eine zu hohe Misserfolgs-Wahrscheinlichkeit), anspornt und optimal stimuliert.

Ängste, die sich aus Mangel an Wissen und spezifischen Kompetenzen, Insuffizienzgefühlen angesichts unklarer, sich ständig ändernder Erwartungen, Unsicherheiten über die eigene Position/ Rolle bis hin zu Katastrophenphantasien speisen, erzeugen Misserfolgs-Ängste. Widerstände, Orientierungslosigkeit und Maßnahmen zum Selbstschutz breiten sich aus. Möglichst vor, aber spätestens in dieser Situation sind Führungskräfte vor allem in ihrer Funktion als emotional leader gefordert.

„Führungsverantwortliche werden das Unternehmen zukünftig am besten dadurch steuern, dass sie sich unters Volk mischen“ (Saaman).  „Walking around“ wird zu einer unverzichtbaren Aktivität verantwortungsbewusster Führung. Das erfordert Zeit, wer sich zum Führen keine Zeit nimmt, führt nicht! Nur wenn Führungskräfte präzise wahrnehmen, womit ihre Mitarbeiter unter- oder überfordert sind, sie einen vertieften Einblick in deren subjektive Wirklichkeiten gewinnen, lassen sich die heute zentralen Führungsaufgaben: reflektieren, transformieren, koordinieren, Impulse und Feedback geben, konstruktiv ausfüllen. Und „konstruktiv“ bedeutet hierbei, was von den Geführten als konstruktiv erlebt wird! Auf diese Weise können Führungsverantwortung und Handlungsverantwortung (bei den Mitarbeitern) synchronisiert und zielorientiert zusammengeführt werden.

Voraussetzung jeder verantwortungsbewussten Führung ist die relative Angstfreiheit der Führungskräfte selbst, die sich in der Regel unter hohem Zeit-, Veränderungs- und Erfolgsdruck erleben. Intensive Angst bei Führungskräften führt zu konsequenzenreichen Fehlentscheidungen, blockiert das effektive Führen der Mitarbeiter auf sachlicher wie auf der Beziehungsebene. Ängstliche Führungskräfte können keine ausreichende Unterstützung, Sicherheit und Schutz in höchst unsicheren Zeiten vermitteln. Ihre Wahrnehmungskapazitäten für die Ich-Welten ihrer Mitarbeiter sind durch die eigene Angst, deren Aushalten und Bewältigen, blockiert. Auf diese Weise fühlen sich die Mitarbeiter nicht nur allein gelassen, Angst wirkt ansteckend!

Gute Führung setzt kein Charisma voraus, aber eine sozial kompetente, emotional reife, selbstreflektierende Persönlichkeit, die bereit ist, offen mit ihren eigenen Ängsten und Unsicherheiten umzugehen und für sich selbst entsprechende Maßnahmen einzuleiten.


AUSBLICK

Digitale Transformation und Transformation der Angst in eine produktive Kraft gehören unausweichlich zusammen, soll der radikale Change Prozess nicht zu vehementen Reibungsverlusten führen. Erst wenn jeder im Unternehmen versteht, worum es in diesem Prozess geht, dann und nur dann wird er sich engagieren. Wenn er sich darüberhinausgehend in einem Klima von Respekt, Wertschätzung und Vertrauen (gelebte Unternehmenskultur) aufgehoben und unterstützt fühlt, wird er seine individuellen Bestleistungen erzielen.

Angst: Leistungsbremse oder Leistungsvehikel? Die wichtigste Funktion von Angst ist damit nicht erfasst, vielmehr übernimmt Angst für jede Kreatur eine so zentrale Schutz- und Sicherungsfunktion, dass Überleben ohne Angst und Schmerz nicht möglich ist. Übertragen auf den Kontext der Digitalen Transformation sollte Angst als Radar für eine mutige und dennoch sorgfältig reflektierte Umgestaltung technologischer und gesellschaftlicher Prozesse seine Bedeutung erlangen.


Dr. Regina Brinkmann-Göbel

…ist Diplom Psychologin, Soziologin, langjährige Expertise in den Bereichen Gesundheit (ehem. Professorin im Fachbereich Gesundheit der FH Bielefeld), Psychotherapie, Gründerin der Unternehmensberatung KMW-Consulting, psychologische Beratung und Coaching. Ihre aktuellen Schwerpunkte sind betriebliches Gesundheitsmanagement in DAX gezeichneten sowie mittelständischen Unternehmen, Etablierung einer Unternehmens- und Leistungskultur in Zeiten forcierten Wandels (Digitale Transformation), Coaching von Führungskräften in beruflichen wie privaten Umbruchsituationen, Sinngenerierung. Sie hält regelmäßig Vorträge und  veröffentlicht Artikel zu den psychischen Begleiterscheinungen von Arbeit 4.0 und deren konstruktiver Bewältigung („Angst 4.0“).

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