Agile Führung und ihre Herausforderungen – Freiraum vs. Vorgaben

In unserer Beratungspraxis erleben wir immer wieder, dass in agilen Strukturen, insbesondere im IT-Umfeld, folgendes Spannungsfeld besteht: Einerseits wollen Mitarbeitende viel Freiraum haben, was sich in Äußerungen wie „ich möchte selbstbestimmt arbeiten“ äußert. Andererseits entsteht oft Stillstand, weil Vorgaben nicht klar genug sind und „solange die da oben nicht sagen, was ich tun soll, mache ich gar nichts“.

Organisationseinheiten, die bis vor wenigen Jahren hierarchisch organisiert waren und die in einer eher konservativen Unternehmenskultur leben, sind es vor allem gewohnt, nach Vorgaben zu arbeiten, die im klassischen Top- Down Verfahren delegiert werden. Damit sind die Rollen von Führung und Mitarbeitenden klar definiert. Entscheidungen werden in der Regel durch die Führungskräfte getroffen, so dass den Mitarbeitenden meist eine umsetzende und ausführende Rolle zukommt.

AGILE STRUKTUREN FÜR VERÄNDERUNG

In agilen Strukturen ändert sich dies. Das agile Manifest legt andere, neue Werte der Zusammenarbeit fest. Dadurch rückt der kooperative, kreative Aspekt viel stärker in den Vordergrund und die Eigenverantwortung von Mitarbeitenden gewinnt eine zentrale Bedeutung. Das bringt eine Reihe von Vorteilen mit sich. Mitarbeitende fühlen sich deutlich mehr wertgeschätzt, der gewünschte Freiraum zum selbstbestimmten Arbeiten ist endlich gegeben und die Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten der Mitarbeitenden nehmen deutlich zu. Damit steigt allerdings auch die (Selbst-)Verantwortung der Mitarbeitenden. Damit kann und will nicht jeder umgehen, immer wieder führt der Freiraum auch zu Verunsicherung und Stillstand. Mitarbeitende sind in vielen Organisationen nicht gewohnt, selbstständig zu arbeiten und plötzlich selbst Entscheidungen zu treffen, was zu einem Gefühl der Überforderung führt.

Die neue Selbstständigkeit und Selbstverantwortung von Mitarbeitenden haben auch Auswirkungen auf die Machtverhältnisse in Unternehmen. Führungskräfte können in agilen Strukturen nicht mehr auf die gleichen Instrumente zugreifen wie in klassisch hierarchischen Strukturen. Vielmehr stehen koordinierende und entwickelnde Aspekte im Vordergrund. Immer wieder wird aber versäumt, Führungskräfte auf ihre neue Führungsrolle ausreichend vorzubereiten. In der Regel werden Workshops und Trainings angeboten, die das agile Prinzip und die notwendigen Strukturen erklären. Die Auswirkungen auf die Haltung und das Verhalten als Führungskraft, die veränderte Führungsrolle und das dafür geeignete Führungsinstrumentarium wird meistens aber nicht vermittelt und entwickelt. Das führt in der Regel mit der Zeit auch zu Überforderung und Frustration bei den Führungskräften. Sie fühlen sich hilflos und nichts will so richtig gelingen.

So passiert es immer wieder, dass mit viel Herzblut, Motivation und Engagement agile Strukturen, agiles Projektmanagement und agile Arbeitsweisen eingeführt werden, aber die Ernüchterung nach ein bis zwei Jahren alle Beteiligten trifft: Statt besser sind viele Dinge schlechter geworden. Statt schneller sind Prozesse und Abläufe langsamer geworden. Statt mehr Flexibilität und Kreativität ist die Zusammenarbeit komplexer geworden und alle haben das Gefühl, nur noch in Meetings zu sitzen, die zu keinem Ergebnis führen.

Doch das muss nicht sein. Die Einführung von Agilität ist kein Selbstzweck, sondern hat immer ein klares Ziel: Die Kundenwünsche schneller und besser zu erfüllen, indem auf Veränderungen und individuelle Wünsche schneller und flexibler eingegangen werden kann. Dieses Ziel spezifiziert sich für jedes Unternehmen bzw. Projekt, aber die Essenz ist immer, den Kunden und seine Wünsche in den Fokus zu nehmen.

In der Praxis scheitert es hieran immer wieder, denn die Vision und das Ziel sind nicht klar und verständlich formuliert, so dass Führungskräfte und Mitarbeitende sich nicht damit identifizieren und an ihnen orientieren können.

Jedes Unternehmen und jedes Projekt brauchen eine Vision und ein Ziel:

  • Welcher Zweck soll erfüllt werden?
  • Welcher Mehrwert geschaffen werden?
  • Welche Vorteile hat der Kunde dadurch?
  • Was gewinnen die Beteiligten?

Das sind grundlegende Fragen zu Beginn, die idealerweise von der Unternehmensvision und -strategie abgeleitet werden, einen Bezug zum Business-Case haben und gemeinsam mit den Beteiligten spezifiziert werden.

Des Weiteren müssen der Rahmen und die Spielregeln der Zusammenarbeit klar gesteckt sein. Das betrifft einerseits die Rollenklarheit insbesondere der verschiedenen fachlichen und disziplinarischen Führungsrollen. Wer ist für was zuständig, wer für was verantwortlich, wer darf was wie entscheiden? Wer ist Ansprechpartner für wen und welche Fragen? Diese Dinge müssen grundsätzlich geklärt und die Ergebnisse auch entsprechend kommuniziert werden.

Darüber hinaus muss aber auch gemeinsam entschieden werden, wie genau Entscheidungen zustande kommen. Wer ist an welchen Entscheidungsprozessen wie beteiligt? Wie werden Entscheidungen kommuniziert? Wer hat Veto-Recht? Wer hat das letzte Wort? Was sind die Parameter, die allen Entscheidungen zugrunde liegen? Insbesondere Entscheidungsprozesse und -verfahren führen immer wieder zu Konflikten in agilen Strukturen, da sich insbesondere Mitarbeitende nicht immer beteiligt und gehört oder eingebunden fühlen. Es geht nicht darum, dass alle an allen Entscheidungen mitwirken sollen, es geht darum, die Spielregeln für Entscheidungsprozesse klar zu definieren, festzulegen und zu kommunizieren, so dass alle Beteiligten wissen, wie Entscheidungen zustande kommen.

Der dritte wichtige Aspekt ist Klarheit über Kommunikations- und Informationsprozesse und -strukturen. Wer muss wen wann über was informieren. Wann ist es die Holschuld, wann die Bringschuld der Beteiligten, Informationen zu vermitteln bzw. zu bekommen? Wer muss sich wie oft mit wem über was austauschen? Ziel soll es immer sein, dass alle Beteiligten die Informationen haben, die sie brauchen, um arbeits- und handlungsfähig zu sein. Dabei gilt es nicht nur den Informationsfluss in Form von Emails, Wiki-Einträgen, Tickets etc. ins Auge zu fassen, sondern vor allem auch die Meetingstrukturen gut zu beleuchten. Wer muss sinnvollerweise an welchem Meeting in welcher Rolle mit welchem Auftrag teilnehmen?

Fazit:

Sind die Rahmenfaktoren 1. Vision, Sinn und Ziel, 2. Entscheidungsprozesse und 3. Kommunikationsprozesse geklärt und allen Beteiligten kommuniziert, ist schon für viel Klarheit gesorgt, die die Zusammenarbeit vor allem in agilen Strukturen erleichtert und es den Beteiligten ermöglicht, souverän mit dem Spannungsverhältnis zwischen Freiraum und Vorgaben umzugehen. Die Förderung und Entwicklung von agiler Führungskompetenz und der damit verbundenen Haltung und persönlichen Reife machen Führungskräfte deutlich wirkungsvoller. Kontinuierliches Feedback im Führungsalltag unterstützt vor allem Mitarbeitenden dabei, den Freiraum, den sie in agilen Strukturen gewinnen, auch auszufüllen und die Selbstverantwortung aller Beteiligten für ihr eigenes Handeln und die daraus resultierenden Folgen zu übernehmen.

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